Donnerstag, Oktober 20, 2005

Kurz vor dem Busch

Papise, der Fahrer, fordert mich dazu auf, seine Biskuits zu Ende zu essen, um 11 Uhr abends. Er selbst ist zu übermüdet dazu. Die Fastenzeit hinterlässt ihre Spuren. Er hatte trotzdem den ganzen Weg nach Dakar gemacht, 12 Stunden um den Gambia herum. Außerdem steht er jeden Morgen um halb sechs auf um zwei Stunden zu beten, egal wann er die Nacht vorher schlafen gegangen ist.

Moussa, der Haushüter, arbeitet tagsüber auf dem Bau, jetzt während des Ramadans nur von 8 bis 13 Uhr, schläft dann drei Stunden, kommt um 16 Uhr ins Büro, sein Dienst geht bis 7 Uhr morgens. Wenn er abends auf der Matte vor dem Haus liegt kommt es vor, dass er im Gespräch einschläft, nachdem er eine Frage gestellt hat. Wenn Freiwillige im Haus sind, lässt er sich das Essen seiner Frau ins Büro bringen.

Bakary, der Koordinator, fastete ebenfalls, besuchte am Sonntag bei „strahlendem Sonnenschein“ zwölf Dörfer mit dem Motorrad, kommt abends zurück, übergibt sich, und macht seitdem Fastenpause um sich zu erholen. Gut für uns: Er ist gegen Nachmittag sehr viel gesprächiger als fastend.

Die Bürozeiten sind von 18 Uhr auf 16.30 Uhr reduziert, in allen Tostanbüros. Der öffentliche Dienst schließt noch viel früher, vor allem in Dakar, wo der Verkehr auch ohne einen Schwarm ausgedürsteter Feierabendler überfordert ist.

Eigentlich sollten Lisa und ich längst unter dem Strohdach eines weiteren Dorfes sitzen und dort unseren Ataya trinken. Doch unsere Abreise hat sich verzögert. Zunächst ist Papise länger in Dakar geblieben als eingeplant, dann erwischt es Lisa mit einiger Macht. Sie ist inzwischen jedoch gut dabei, sich von Erkältung, Fieber und Sturz in die hauseigene Abwassergrube zu erholen (sie mag davon am besten selbst berichten, hier ist der Link zu ihrem heutigen Eintrag, der ihr Versprechen "Gleiches anders erlebt" kaum besser einhalten könnte). Wir hoffen, dass sie uns am Freitag begleiten kann. Denn unsere Abfahrt ist jetzt für Freitag angesetzt. Wenn es unsere Gesundheitszustände erlauben, werden wir zwei Dörfer, ein ehemaliges, ein neues, besuchen. In der heutigen Radiosendung über Tostan, die jeden Mittwoch im regionalen Radio aus Ziguinchor gesendet wird, forderte Bacary unser erstes Dorf auf, seine zwei deutschen Freiwilligen mit ihrer ganzen Gastfreundschaft aufzunehmen.

Wir haben uns in den ersten Tagen gut kennen gelernt. Bacary Tamba ist sehr aufgeschlossen und humorvoll, viele nennen ihn noch respektvoll „Deputé“ in Erinnerung an seine frühere Position als Abgeordneter des senegalesischen Parlaments. Trotz seiner guten Position bei Tostan wohnt er in einem kleinen Haus, in dem sich seine sechs Kinder (ein Junge unter fünf Mädchen, die älteste 18) ein Zimmer teilen müssen. Ein größeres Haus kann er nicht bezahlen. Seine Familie hat kein Auto, keinen Kühlschrank, keinen installierten Herd, die ersten Zeichen von etwas Wohlstand. Ein ordentliches Haus mit vier Zimmern ist dabei für den Preis eines ordentlichen Gebrauchtwagens in Deutschland zu haben. Demnächst steigt Bacary zum internationalen Koordinator auf, weil das Tostan-Programm in den Gambia ausgeweitet wird, sobald der Grenzzwist (mit dem Senegal) beigelegt ist. Der Gambia ist einer von fünf afrikanischen Staaten, die in diesem Jahr eine Anfrage an Tostan gerichtet haben, darunter Mali, Mauretanien und Somalia auf der gegenüber liegenden Seite des Kontinents.

Ich habe die Extratage vor der Abreise genutzt, um unsere beiden ersten Berichte fertig zu stellen, den über das Dorf und jenen über das Seminar. Die Arbeit war eine geistige Erfrischung. Der Zweck liegt hierin: 1. Die Arbeit der lokalen Tostan-Mitarbeiter wird von außerhalb begutachtet und dokumentiert. Die Freiwilligen kommen und bringen ihre Kameras und Laptops mit - für viele Senegalesen eine Attraktion - um einen Eindruck von der Arbeit zu vermitteln, die ansonsten meist fernab der Blitzlichter stattfindet. 2. Die Berichte dienen der Dokumentation für die Spendengeber wie Unicef oder die amerikanische Annenberg Foundation, die wissen wollen, was mit ihren Mitteln geschieht. 3. Wir Freiwilligen lernen das Programm und seine Wirkung vor Ort kennen. Wirklich, ich muss mir kein Bild mit Berichten aus zweiter Hand machen. Ich kann die Menschen in den Dörfern befragen, die Tostan-Lehrer kennen lernen, in die Lehrbücher gucken. Was mich interessiert, ich kann darüber berichten. Dazu kommt noch, ein Tag kann total entspannt und lässig sein, wie der letzte Sonntag, ich sitze den ganzen Tag auf der Terrasse und lese oder gucke in die Luft, und kann dabei ein Dutzend neuer Dinge lernen, wenn ich nur ein paar Fragen an Bacary richte. Eigentlich scheinen wir nur zu plaudern. Es ist eine sehr unformelle Art des Lernens.

Papise brachte aus Dakar unsere Visa mit und dazu zwei nette Überraschungen. Die eine ist, dass die Verlängerung nicht unseren ganzen Aufenthalt abdeckt, wir also diese Behörde erneut bemühen müssen. Die zweite, als Anlage für spätere Schmunzelfalten, auf dem nebenstehenden Bild meines Reisepasses zu entdecken, ganz ohne jede Französischkenntnisse… (Anklicken zum Vergrössern)

Heiß ist es geworden. „Man sagt, wenn ein Sahel-Maure stirbt und sich inmitten der sengenden Flammen der Hölle wieder findet, dann kehrt sein Geist unweigerlich auf die Erde zurück – um sich eine warme Decke zu holen.“, lese ich in der Wassermusik von T.C.Boyle. Wenn ich bei seinen detailbeladenen Ausflügen in das Westafrika des 18. Jahrhunderts davonschweife wie ein Jüngling bei dem Gedanken an seinen Schwarm, dann bin ich dankbar, dass die Casamance nicht ein paar hundert Kilometer weiter nördlich liegt. Denn wie wir dem Ende der Regenzeit erbarmungslos entgegeneilen, es vielleicht sogar schon erreicht haben, heizt die Sonne das Büro auf als ob demnächst Biskuites auf dem Konferenztisch gebacken werden sollten, in dem öligen Schweiß unserer Stirne. Wenn ich mich der gleichen Verpflichtung wie die unblessierte Mehrheit meiner muslimischen Umgebung hingäbe und mich in der Enthaltung von Nahrung und Getränken zur Erinnerung an weniger reiche Zustände übte, ich weiß nicht, wie lange ich durchhielte, ohne mich zu übergeben wie nach dem Verzehr eines halbrohen senegalesischen Gemüseeintopfs (Tomaten, Rettich, Möhren) um halb zwei Uhr morgens im Hinterhof des Tostan-Büros...

Wie gesagt, heiss ist's geworden...