Zurückkommen
Als ich im September mit Lisa in das Flugzeug nach Dakar stieg, wusste ich, dass alles anders und neu sein würde. Ich hatte keine Idee vom Leben in Afrika, von seiner Gesellschaft, von seinem Entwicklungsstand. Ich kannte nur Fernsehbilder von Hungersnöten und Berichte über Kindersoldaten in Bürgerkriegen. Ich war eingestellt auf Magenverstimmungen und Malaria-Moskitos, Verwirrung und Überforderung. Ob mir die Arbeit mit Tostan zusagen würde, wusste ich eben so wenig .
Vor unserem Rückflug morgen Nacht nach Berlin habe ich ein etwas anderes Gefühl. Ich kenne den Zielflughafen, seine Stadt. Meine Familie und Freunde erwarten mich dort. Ich werde kein neues Studium anfangen, sondern lediglich das alte fortsetzen, in dem ich mich schon zwei Jahre lang orientiert habe. Ich habe lebhafte Erinnerungen an alle Orte. Ich habe Einkaufsvorlieben - Bioläden -, Parks, in denen ich am liebsten Joggen gehe, Kinos, die meine Filme spielen. Ich weiss, dass mich Tagespolitik ermüdet und der Potsdamer Bahnhof nur einer von zu vielen grellen, sterilen, leblosen Konsumpalästen ist.
Und doch weiss ich fast gar nichts. Ich kann mir ausmalen, dass viele Dinge in einem neuen Licht erscheinen werden, ich sie mit neuen Augen wahrnehmen werde. Darin besteht die grosse Unbekannte. Ich kehre in bekanntes Terrain zurück, doch wird vieles neu erscheinen. Und davon habe keine Vorstellung, genau so wenig wie von der Art und Weise, wie ich auf diese neue Situation reagieren werde, in eine neue alte Welt zu kommen.
Das Zurückkommen gehört dazu wie das Reisen an sich!, schreibt mir eine gute Freudin. Sie hat recht. Indem ich zurückkomme, werde ich gezwungen, mir meiner eigenen Position bewusst zu werden. Mit dem Zurückkommen muss ich meinen eigenen Platz in der Gesellschaft neu definieren, denn eine neue Gesellschaft, neue Erfahrungen und Menschen sind ein Teil von mir geworden. Ich werde mir über mein weiteres Studium Gedanken machen müssen, das bisher nichts mit meinen Erfahrungen im Senegal zu hatte, und damit in einen Konflikt mit diesen neuen Erfahrungen gerät.
Es ist schwierig, eine Erfahrung wie diese kurz und knapp zusammenzufassen. Bei unser Rückfahrt nach Dakar zeigte Lisa mir folgendes Gedicht von Erich Fried, das mir gefiel. Es heisst "Einige Irrwege":
der begeht
Verrat an der Schönheit des Lebens
und an der Schönheit der Welt
Wer sich abwendet von der Hässlichkeit
der begeht
Verrat an den Leiden des Lebens
und kämpft nicht mehr gegen Unrecht
der geht in die Irre
Wer nur noch die Hässlichkeit sieht
der geht in die Irre
Wer nur noch die Hässlichkeit sieht
der geht in die Irre
Wer nur noch den Kampf gegen Unrecht sieht
der geht in die Irre
Wer glaubt nie zweifeln zu dürfen
an der Schönheit
an der Hässlichkeit oder sogar
am Kampf gegen Unrecht
der ist so arm geworden
wie der der zweifeltund glaubt nie mehr glauben zu dürfen
(Bild oben: Das World Press Photo des Jahres 2005 ist vom Reuters Fotografen Finnbar O'Reilly: Es zeigt eine Mutter und die Hand ihres Kindes an ihrem Mund in einer Nothilfestation in Tahoua in Niger.
Bild unten: Die Teilnehmer der Tostanklasse bei unserem Besuch im Oktober 2005.)
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