Samstag, Oktober 29, 2005

Fünf Tage Dorfleben und so arbeitet Tostan (ein Anfang)

Während unsere Abfahrt auf Sonntag verschoben wurde, drehen sich die Bilder von Kabeumb und Kankandi noch immer in meinem Kopf. Den nötigen Abstand zu gewinnen, um unsere Beobachtungen in einen Artikel zu formen, ist mir heute nicht gelungen. Die Vorstellung, schon am Sonntag wieder aufzubrechen, um erneut in diese ganz andere (und dazu noch neue) Welt der senegalesischen Dörfer einzutauchen, lässt mich leicht unruhig werden. Wie soll ich die Dörfer noch einzeln wahrnehmen, wenn ich sie im Drei-Tage-Rhythmus abklappere, und danach kaum Zeit zum Setzen lassen bleibt? Auf der anderen Seite ist diese Schlag auf Schlag Methode unsere Chance, eine Vielzahl von Dorfwelten kennen zu lernen, mit vielen Leuten zu sprechen, ein breites Bild von ihrer Lebensrealität zu bekommen. Mit jedem Dorf lernen wir außerdem neue Aspekte des Tostan-Programms kennen.

Das Tostan-Büro in Dakar ist für die Koordination der Freiwilligen (oder Praktikanten) zuständig. Die regionalen Büros werden kurzfristig informiert, und die Koordinatoren dort kümmern sich um die Dorfbesuche (Übersetzer, Transport, Benachrichtigung des Dorfs). Diese Besuche von Toubabs neigen dazu, eine Attraktion zu sein, weil die Gastfreundschaft in diesem Land der Teranga („Gastfreundschaft“ auf Wolof) ohnehin groß geschrieben wird, mit der Einladung von Tostan nun aber noch ein bemerkenswerter Eifer hinzukommt, die Veränderungen im eigenen Dorfleben zu präsentieren, die unterstützt durch die Tostan-Klasse erreicht wurden.

In unserem ersten Dorf, Kabeumb, sitzen wir einer Gruppe Frauen gegenüber, die allesamt beschnitten sind. Das heißt, sie mussten sich im Alter von fünf bis zehn Jahren dem Ritual unterziehen, bei dem ein Teil der Klitoris abgetrennt wurde. (Es existieren verschiedene Stufen der Beschneidung, dies ist die unterste, was jedoch nicht im geringsten eine Abschwächung darstellt!) Ohne Beschneidung, kein Mann, ohne Mann, keine Familie und keine Versorgung. Die Frauen erklären, sie hätten ihre Töchter ebenfalls beschneiden lassen, wenn sie nicht durch Tostan von ihren Rechten erfahren hätten. Tostan klärte über Menschenrechte auf und wies auf die gesundheitlichen Folgen der Beschneidung hin, die den Frauen alle unangenehm vertraut sind (wir erfuhren von Probleme und Schmerzen insbesondere bei der ersten Geburt und dem Geschlechtsverkehr; wir sprachen in der Gruppe und in Einzelgesprächen). In Folge dessen entschlossen sich die Dorfbewohner, der Praxis ein Ende zu bereiten. Sie organisierten, unterstützt durch Tostan, eine öffentliche Deklaration, bei der 118 Dörfer sich diesem Anliegen anschlossen und die Praxis ein für alle mal für beendet erklärten.

Der Idee der Deklaration liegt eine Theorie zu Grunde, die besagt, dass gesellschaftlicher Wandel praktisch über Nacht möglich ist. Was es dazu bedarf, ist die Unterstützung aller beteiligten gesellschaftlichen Akteure, und eine Streuung dieser Unterstützung über die gesamte betroffene Region. Um also Erfolg zu haben, diskutierte die Dorfversammlung des Tostan-Dorfs, darunter religiöse Führern, das Dorfoberhaupt, die Frau (es handelt sich immer um eine Frau für die Mädchen!) mit dem Beruf der Beschneidung von Mädchen (l’exciseuse auf Französisch; auf Deutsch?), Familienväter usw., über die Probleme der Beschneidung und ihre mögliche Abschaffung. Schließlich herrschte ein dorfweiter Konsens, und eine Abschaffungsbewegung entsteht. Eine Deklaration soll organisiert werden. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda unter Freunden und Familien über die Dorfgrenzen hinweg spricht diese Bewegung nun um. Da die Frauen in den anderen Dörfern mit den gleichen gesundheitlichen Problemen vertraut sind, sind sie sehr an dem Wissen ihrer FreundInnen und Verwandten interessiert. Sie fragen das Tostan-Dorf an, ob sie an der Deklaration teilnehmen können und werden eingeladen.

Zur Deklaration kommen nicht nur Delegationen aus sympathisierenden Dörfern, sondern auch Journalisten, Verwandte aus dem Ausland, Präsidenten von Fußballvereinen, die Direktorin von Tostan, Marabuts und Imams (religiöse Führer). Das Dorf schwört einer Jahrtausende alten Tradition ab und hat dafür viele Zeugen. Da nun in der gesamten Region niemand mehr die Beschneidung der Frau als Bedingung für eine Hochzeit verlangt, ist ihr raison d’être verschwunden. Ende 2003 und im Mai 2005 gab es zwei Deklarationen in der Südregion des Senegal, der Casamance, in Oulampane (das Lisa und ich in der nächsten Woche besuchen werden) und Marakissa, woran zusammen 162 Dörfer teilnahmen. Seitdem ist die Beschneidung in einem Teil der Casamance Geschichte. Die vorzeitige und erzwungene Heirat ebenfalls (ein weiteres Thema…). Aktiv war Tostan lediglich in 20 Dörfern seit 2001, mit der finanziellen Unterstützung von Unicef.

Ich habe den Ansatz von Tostan zur Beschneidung zuvor erklärt, als ich ihn mir zusammengelesen hatte, hier.

Die Abschaffung der Beschneidung ist jedoch nur ein Teil des Ganzen, und das Ganze ist die sich verändernde Rolle der Frau. Sie erkennt ihre Rechte, sie beginnt eine aktive Rolle in der Dorfgemeinschaft einzunehmen. Sie gewinnt ein Körperbewusstsein und wird sich ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft bewusst. Sie beginnt sich am Familieneinkommen zu beteiligen (traditionell die Domäne des Mannes), indem sie Handel betreibt, oder sich für den Gemüseanbau- und Verkauf organisiert; Handel und Reisen waren ihr zuvor oft untersagt. Sie darf nicht einfach geschlagen werden, wenn sie nicht spurt, und ihre Meinung in Familie und Dorf zählt. Sie hat das gleiche Recht, einen Schulabschluss zu machen, wie die Jungen, und darf deswegen nicht frühzeitig und ohne ihren freien Willen verheiratet werden, wie bei dem Tausch eines Kamels. Von den Männern kommt in diesem Prozess eine erstaunliche (?) Unterstützung, und den Willen zur Einsicht, dass Althergebrachtes eventuell nachteilig ist, einhergehend mit dem Willen, das eigene Verhalten zu verändern, finde ich bemerkenswert. Dies gehört zu den Punkten, die mich bei unseren Besuchen noch am meisten in Verblüffung versetzen, und es sind alles Veränderungen, die durch Tostan erwirkt werden.

Am 11./12. November findet in der Nordregion des Senegal, der Fouta, eine weitere Deklaration statt. Inzwischen scheint organisiert zu sein, dass Lisa und ich dort hinfahren können um Zeuge zu werden. Ich bin äußerst gespannt.

***

Malamin, unser Begleiter und Übersetzer des Diola, hatte am Abend vor unserer Abreise die Symptome der Malaria bei sich festgestellt. Am nächsten Tag ist er bereits unterwegs in den Busch, ohne Behandlung, fernab von Krankenhäusern. Er konnte sich jedoch in Kabeumb die notwendigen Medikamente besorgen. Dies ist ein weiterer Aspekt des Tostan-Programms, die Gesundheit. Die Malaria ist ein großes Problem, aber da Impfungen oft meistens nicht wahrgenommen werden, kommen auch noch verhütbare Krankheiten wie Tetanus, Polio, Keuchhusten, Gelbfieber oder Diphtherie hinzu. Frauen lassen sich vor und nach ihrer Schwangerschaft nicht untersuchen oder impfen. Bei Geburten im Dorf kommt es häufig zu Komplikationen, die nicht nur im Zusammenhang zur Beschneidung stehen. All dies sind Punkte, über die Tostan spricht, und Möglichkeiten zur Prävention aufzeigt. In Folge des Programms organisieren sich die zuvor meist unorganisierten Dörfer (Dorfchef und Dorfälteste entscheiden, und sind damit überfordert) mit einer Dorfverwaltung. In Kabeumb stand eine Frau an der Spitze dieser Verwaltung. Ein Arm der Dorfverwaltung ist für die Gesundheit des Dorfes zuständig. Wenn sich eine schwangere Frau beispielsweise nicht untersuchen lässt, fragt die zuständige Kommission nach dem Grund und gewährt, wenn nötig, finanzielle Unterstützung. Im Programm werden die Teilnehmer über das Impfprogramm der senegalesischen Regierung informiert. Sieben Grundimpfungen sind für Kinder unter fünf Jahren kostenlos zu haben. Schwangere Frauen können sich zu einem geringen Unkostenbeitrag impfen lassen. Doch davon weiß die Dorfbevölkerung meist nichts.

Was ist jedoch Prävention wert ohne gute Hygiene, besonders wo Mensch mit Tier praktisch zusammenlebt, Kinder im Mist spielen, mit Händen aus großen Schüsseln gegessen wird, Moskitos nur darauf warten, sich in Pfützen und menschlichen Exkrementen, die sich mangels Toiletten oder Latrinen in der Umgebung streuen, fortzupflanzen? Deswegen behandelt Tostan Gesundheit im gleichen Modul wie Hygiene, und die Fortschritte sind schnell sichtbar: In Tostan-Dörfern richten die Bewohner Latrinen ein, die Leute waschen sich vor dem Essen die Hände, Seife ist vorhanden. Alles keine Selbstverständlichkeiten.

Das Dorferlebnis lebt von der Atmosphäre, in Lehmhütten zu übernachten, in denen nachts der Staub von der Decke bröckelt, nach Sonnenuntergang kaum eine Beschäftigung bleibt, als die Sterne zu beobachten, zu den Mahlzeiten von jeder Familie eine kleine Platte zum kosten zu bekommen, so dass sich leicht vier, fünf Töpfe mit Reis, Fisch und etwas Maniok stapeln können; den stolzen Hahn kennen zu lernen, bevor er im Kochtopf landet und sein Kamm abends auf dem Teller auftaucht; sich von einem ausgehungerten, halb verdursteten (Ramadan…), jedoch unglaublich tapferen Begleiter die Möglichkeit mehrerer Hähne auf einem Territorium erläutern zu lassen und sich dabei an den Bio-Unterricht der sechsten Klasse erinnert zu fühlen; Auberginen- und Avocadopflanzen zu bestaunen und zu erkennen, dass Melonen nicht auf gewaltigen Mammutbäumen wachsen, sondern auf dem Boden wie Erdbeeren, und noch mal der Begleiter, dieser Malamin, der plötzlich zum Spinnenmensch wird, bei mir mehrere Sicherungen durchbrennen, als er mit der einen Hand isst, mit der anderen die Taschenlampe hält, und es dennoch schafft, ein Streichholz anzuzünden um eine Kerze zu erleuchten. Er hat seine Zehen eingespannt. Auf der Rückfahrt kam mir das Betreten der betonierten Route Nationale plötzlich festlich vor, und für den Rest des Tages hatte ich keine Wünsche außer Lisa beim Wäsche waschen zu beobachten – und unser Huhn zu bewundern. Ein Gastgeschenk aus Kankandi.

PS: Für Bilder verweise ich auf Lisas Blog (Link in der Sidebar), ich kam leider nicht mehr dazu.