Noch vor zwei Wochen schien es praktisch sicher, dass wir zu der Deklaration in der Fouta fahren könnten. Bacary Tamba, der regionale Koordinator und unser Ersatzpapa für die Zeit hier, hatte nichts dagegen einzuwenden. Doch dann telefoniere ich gestern mit der Tostan-Direktorin, Molly Melching, in Dakar. Sie meinte, wir sollten nicht fahren, es könnte etwas gereizt werden, weil einige sehr konservative Teile der Bevölkerung nicht gerade glücklich über das Wirken von Tostan ist, zuvor Reifen brannten, Facilitatoren bedroht wurden. Diese konservativen Gruppen von der ethnischen Gruppe der Fulani sehen nicht ein, warum Traditionen wie die Beschneidung und erzwungene Heirat abgeschafft werden sollten. Melching sagte mir, sie würde nur Praktikanten mit einer konkreten Aufgabe schicken, und die hätten wir ja nicht. Es sei wichtig, die Kapazitäten für Mitarbeiter von Tostan zu nutzen, die die Erfahrung benötigen. Eigentlich hatten wir wegen unserer Arbeit hier telefoniert, die Berichte für Unicef-Deutschland. Zu unseren ersten beiden Artikeln war sie noch nicht gekommen. Wegen unseren aktuellen Artikeln wollten wir diese Wochen noch telefonieren. Heute Morgen kommt aber dann die unerwartete Wende. Die Direktorin ruft im Bignona-Büro an, sagt, wir sollten zur Deklaration kommen und darüber für Unicef auf Deutsch berichten. Sie hatte frühmorgens unsere ersten Artikel über das Tostan-Dorf und das Schulungsseminar gelesen.
Der restliche Tag ist eher elektrisiert gewesen. Wir brechen morgen früh gegen 5 Uhr auf, die Fahrt wird den ganzen Tag dauern. Die Fouta liegt am nördlichsten Ende des Senegal, an der Grenze zu Mauretanien. Wir sind ganz im Süden.
An unserem letzten Abend in Diacounda, unserem ersten Dorfbesuch in der letzten Woche, sind wir plötzlich in eine angeregte Diskussion verwickelt. Die Argumente waren nicht neu, aber bisher musste ich mich noch nicht direkt mit ihnen auseinandersetzen. Unser Gesprächspartner erklärte uns, dass sie „in Afrika“ litten. Ihnen mangele es an allem, das Leben sei so hart, der Alltag sei von harter körperlicher Arbeit dominiert. Hilfe, meinte er, müsse aus Europa kommen, denn es habe eine historische Schuld. Die Existenz von Armut in Europa wollte er nicht glauben, er meinte, die Ärmsten bei uns wären Könige in Afrika. Roboter oder Maschinen erledigten alle harte Arbeit. Er verwies auf unserem technischen Geräte und Computerfertigkeiten. Erfolg zu haben und Wohlstand zu erlangen sei leicht. Warum die Solidarität unter den Menschen abnehme, wollte er wissen, wenn es tatsächlich Schwierigkeiten geben, könnten die anderen da nicht aushelfen?
Die Leute hier sind stolz. Sie präsentieren, was sie erreicht haben, erklären, wie sie sich durchschlagen, sind preisgekrönte Gastgeber. Es kommt jedoch vor, dass ganz plötzlich, so scheint es, eine Unzufriedenheit ausbricht. Ist dies der Vergleich mit uns? Entsteht Unzufriedenheit überhaupt nur durch Vergleiche? Schlummert diese Unzufriedenheit in allen Menschen hier oder nur in manchen, die dem Vergleich mit Weißen besonders ausgesetzt sind? Leiden die Menschen hier wirklich, im Senegal, einem der wohlhabendsten Länder Westafrikas (aber dennoch eines der Ärmsten Länder der Welt, das vom teilweisen Schuldenerlass der Industrieländer „profitiert“), da sie doch immerhin genug zu Essen haben, Wasser in Brunnen finden können, eine Beschäftigung in der Landwirtschaft haben, keine Kriege geführt werden? Ich kenne keine Antwort.
In Oulampane, dem zweiten Dorfbesuch, haben wir mit dem Präsident der Gemeinde (die aus 48 Dörfern besteht), dem Imam und dem Dorfchef gesprochen. Der Dorfchef ist laut Personalausweis 80 Jahre alt, meinte aber, er sei wohl gut 13 Jahre darüber. Schönheitsfehler, als die Ausweise nach der Unabhängigkeit 1960 ausgestellt wurden. Er war mit 89 Jahren noch Teilnehmer der Tostan-Klasse, lernte eifrig, war von dem neuen Wissen fasziniert und bedauerte, dass er nie eine derartige Ausbildung für seine Aufgabe als Dorfchef erhalten hatte. Er scheiterte erst an seinem schwachen Augenlicht, als er auch noch lesen und schreiben zu lernen versuchte. Als Kind hatte ihn sein Vater ihn auf dem Feld benötigt, deshalb durfte er keine Schule besuchen. Das Ende des Programms bedauerte er: Was er vor allem vermisse, seien die Bilder. Er hatte eine leuchtende Erinnerung an die Bilder. Die Tostan-Pädagogik sieht einfache Zeichnungen für den Unterricht vor, und das Dorfoberhaupt erklärte, darin finde man eine Realität wieder, erkennt, was gut und was nicht gut ist. Für die Teilnehmer, die oft nicht alphabetisiert sind, sind Bilder der einzige Weg ihre Kenntnisse zu erweitern. Wir hatten zuvor ein Bild gesehen, dass eine Frau bei der Verrichtung einer Arbeit zeigte, die typischerweise mit Männern assoziiert wird, und ein anderes, auf dem Mann und Frau zur Wahlurne schritten.
Der Imam war geschwächt, weil eine Malaria-Erkrankung an ihm zehrte (trotz Moskitonetz). Er erklärte uns, dass Tostan ganz im Einklang mit der Lehre des Islam stehe. Der Islam fordere beispielsweise Sauberkeit und Hygiene und dass in der Familie Mann und Frau Probleme miteinander diskutierten. Ich staunte nicht schlecht. So hatte ich Tostan noch nicht gesehen, denn Tostan ist sicherlich keine religiöse Organisation.
Der Präsident der Gemeinde, ein junger Mann mit geschliffenem Französisch, erwartete uns im neuen Verwaltungsgebäude. Im Hintergrund wird gerade eine neue Mobilfunkantenne aufgestellt. Er erklärte uns die Bedeutung der Dezentralisierung des Senegal und die Rechte zur Mitbestimmung der Dorfbevölkerung. Oft klappe dies überhaupt nicht, weil die Leute damit überfordert sind, der Dorfchef keine Ausbildung erfahren hat. Sie können keine Ziele formulieren. Durch Tostan verbessere sich diese Situation enorm (er sprach von einer „révolution“). Tostan regt die Errichtung eines Ausschusses zur Selbstverwaltung an, ein Comité de Gestion Communautaire, das mit verschiedenen Kommissionen ausgestattet wird zu Außenbeziehungen, Gesundheit, Bildung, Konfliktlösung etc. Die Mitglieder sind von der Dorfversammlung (Männer und Frauen) gewählt und werden von Tostan geschult. Offenbar funktioniert dies gut.
In Oulampane verbrachten wir den Korité, das Fest zum Abschluss des Ramadan. Die Dorfbewohner organisierten einen Tanz für uns, wobei unser Übersetzter, Malamine, wahrscheinlich nicht wenig seine Finger im Spiel hatte. Seine Familie wohnt in Oulampane , bestehend aus Frau und eigenen Kindern sowie einige Kinder von Verwandten. Sicherlich so 6-7. So erlebten wir zum ersten Mal, wie die Diola ihre Feste feiern. In den vorherigen Dörfern herrschte immer Stille, weil der Ramadan Krach und Feste verbietet. Ein Trommler sorgte für die Rhythmen, die Leute sangen und klatschten auf Holzstäbchen dazu. Und es wurde getanzt. Der Tanz der Diola ist sehr intensiv, er bringt die Erde zum Beben. Es ist mir ein Rätsel, wie die Gelenke der älteren Dorfbewohner ihn mitmachen. Die Gruppe war interessant. Da tanzten kleine Mädchen direkt nach älteren Damen, junge Leute in unserem Alter schlossen sich Müttern mit Kind auf dem Rücken an. In meinen Ohren pfiff es. Gegen den Lärm der Holzstäbchen sind Flugzeuge Fruchtfliegen.
Wenn wir Dörfer besuchen, versuche ich immer auch ein Stück von dem Alltag der Menschen einzufangen. Da wir als Gast wie Könige bedient werden, ist das nicht ganz leicht. Im ersten Dorf, Diacounda , beobachtete ich, wie Frauen und ihre Töchter mit großen abgerundeten Stöcken Sonne getrockneten Mais stampften. Oft zwei, drei an einem vasenförmigen Holzbehälter, wodurch ein Rhythmus entsteht. Die Zubereitung einer Familienration dauert leicht eine Stunde. Ich frage, ob ich das ausprobieren darf. Nach einer Viertelstunde muss ich aufgeben. Meine rechte Hand blutet von der Reibung, ich habe mehrere Blasen. Zwei Tage lang schüttele ich Hände äußerst zurückhaltend. Im Vergleich zu meinen Händen sind schon die Händchen der kleinen Mädchen mit Leder überzogen.
Unser Huhn lebt noch. Inzwischen haben wir es bei der Frau von Bacary gegen einen kräftigen Hahn eingetauscht, auf ihren Vorschlag hin. Hühner legen Eier und haben viele kleine Küken. Ein Hahn hingegen reicht aus, um eine ganze Horde Hühner zu befruchten (da die Gesellschaftsorganisation der Hühner auf regelmässigen Vergewaltigungen durch einen Oberhahn basiert). Ich bin ein wenig erleichert.
PS: In meinem letzten Eintrag hatte ich die Beschneidung der Frau (FGC) als eine jahrtausendealte Tradition charakterisiert. Auf Westafrika trifft das so nicht zu. Wie lang auch immer Frauen in anderen Regionen schon beschnitten wurden, in Westafrika ist diese Praxis erst vor einigen hundert Jahren eingeführt worden, durch die Bewegung von Nomadenstämmen aus Nordosten. Die Einführung hängt mit dem Einzug des Islams (irgendwann zwischen 1200 und 1500) zusammen, obwohl der Islam die Beschneidung der Frau in keiner Weise empfiehlt.
PS2: Vor ewigen Zeiten schrieb ich, „Selbst Lisa, die nicht die Angewohnheit hat, wie ich zu leicht über Arbeit in Aufregung zu verfallen, leuchteten die Augen“ (Eintrag 8.10.). Das hatte ich nicht so gemeint, wie es klang. Es klang, als ob Lisa arbeitsfaul sei. Das ist sie natürlich nicht. Ihr Temperament ist einfach besonnener und sie fängt nicht gleich an im Kreis zu hüpfen, wenn sie ein Projekt interessant findet, wie ich wohl ab und an dazu die Neigung habe.